#1

Mein persönlicher kritischer Rückblick 2020

in Hautnah - Geschichte und Geschichten um Rock, Blues, Folk & mehr 16.12.2020 11:40
von SN-Nittel | 329 Beiträge | 724 Punkte

Das Jahr und auch das Musikjahr 2020 gehen zu Ende ...

Es war ein Jahr mit Entbehrungen, Enttäuschungen, kleinen Hoffnungsschimmern und einer Erkenntnis, die mich etwas traurig stimmt. Es scheint, als wären die guten alten Zeiten vorbei. Dennoch versucht man auch immer das Positive zu sehen. Es fällt einem schwer, aber es besteht Hoffnung, dass die Livemusik 2021 wieder anläuft.
Trotzdem scheint man als Rockfan zunehmend ein Außenseiter in der Gesellschaft zu werden. Vorbei sind die Zeiten, in denen „Kultur“ ein echtes Lebenselixier war und der Stellenwert "Musik Live“ in unserer durch und durch geregelten Maschinerie der globalisierten Welt eine andere Welt für Musikliebhaber darstellte. Das Rockbusiness ist an den Rand gedrängt worden und auch in die Jahre gekommen. Man lebt zur Zeit viel von den Erinnerungen, kramt in alten Platten oder Konzertberichten. Auch mir geht es so. Ich erinnere mich gern an die ausufernden Musikabende in den 80er und 90er Jahren. Natürlich fanden auch in den letzten 20 Jahren tolle Musik und Konzerte statt.
2020 war ein gehemmtes Jahr mit einem Störfaktor, der den Menschen zugesetzt hat und in meinen Augen auch mehr bewirkte als notwendig war. Es war aber auch ein Jahr, das mir persönlich die Augen geöffnet hat, wie manche „ticken“. Die Politik und besonders der Journalismus hat mich nicht gerade positiv bestimmt.
Kommen wir zur Musik.
Die Zeiten der großen Bands neigen sich dem Ende zu und man hatte die große Hoffnung, das eine oder andere Konzert noch zu erleben. Pustekuchen ..., es wurde alles verschoben oder abgesagt.
Das Jahr begann ja noch viel versprechend und der Kalender war prall gefüllt. Clubkonzerte waren angesagt und auch so manche Karten für Großkonzerte und Open Airs lagen in der Schublade. Einige Bluesabende bereiteten mir in deutschen Landen von Erfurt bis Dresden viel Freude. Leider ging es dann Schlag auf Schlag und alles war plötzlich vorbei.
Covid-19 hatte unsere Politik verrückt gemacht und es wurde irgendwie gehandelt. Vorbei mit Rock N Roll und Freiheit.
Das sonnige Frühjahr brachte Verschiebungen von Konzerten und die Open Air Festivals wurden abgesagt. Eine kleine Ausnahme bildeten der lockere Palais Sommer in Dresden sowie zwei Besuche in der Moosheide im Erzi. Im Sommer keimte erneut Hoffnung für den Herbst auf, doch die Politik tat sich schwer. So gab es noch 2 Open Air Konzerte im Spätsommer und die Hoffnung schwand zunehmend, als die Fallzahlen trotz gut durchdachter Konzepte wieder stiegen.
Die Schuldigen waren schnell gefunden, das Natürliche wurde zum Unnatürlichen erklärt, die Kultur, Livemusik und auch die Gemeinschaft mit Lebensfreude wurden an den Pranger gestellt und als unfähig beurteilt, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen Naja.
Und so ist jetzt noch die Lage im Dezember.
Touren von Musikern sind jedoch längst für 2021 wieder geplant. Die Hoffnung bleibt, aber...?
Somit war es für mich ein sehr gedämpftes Live Musik Jahr ohne ein größeres Konzert, mit paar kleinen Highlights und mit vielem Musikhören in privater Atmosphäre.
Man hat die gewonnene Zeit auch genutzt, sich weiter über so manche Bandgeschichte und wegweisende Trends zu informieren, wie auch etwas hinter den Kulissen der Rockgeschichte zu stöbern, ein Thema, das unendlich ist. Man ist ja nun selbst schon seit über 40Jahren begeisterter Musikliebhaber und hat so manches schon erlebt, aber es ist halt nur ein klitzekleines Puzzle in der großen Welt der populären Musik. Leider findet auch meine Musik kaum in den TV Medien statt, was sehr schade ist. Da erinnere ich mich gern zurück an die 80er. Ja, in Erinnerungen schwelgen, das war 2020 für mich ein Thema, was mich auch bewog, mehr für mein persönliches Archiv zu tun.
2020 hat sich aber auch musikalisch etwas getan.
Einige neue Scheiben sind mir ans Herz gewachsen, die habe ich lieben gelernt und auch so manche alte CD wurde wieder herausgeholt.
Bruce Springsteens 2019 Westernscheibe, Stern Meißen neue Freiheit und Dan Penn Alterswerk sind meine Lieblingsdinger. Und es gab auch Musiker, die mich live begeisterten. Staci Collins zum Beispiel, die mit ihrer Power die Musik lebte oder Physical Graffiti, die mir Led Zeppelin wieder schmackhaft machten. Auch war es im Spätsommer schön, meine Blueser von Engerling und Monokel wieder live zu erleben. Keine andere der beiden Bands habe ich jemals öfter live gesehen.
Die Musik ist mittlerweile so breit gefächert, dass man kaum noch durchblickt und man sollte sein Ding machen. Mit manchem kann ich jedoch nix mehr anfangen ... Hm, ist so.
Allerdings liegt mir der Bluesbereich sehr am Herzen, auch wenn es in der kleinen Szene große unterschiedliche Strömungen gibt.
Im Bluesbereich gab es so manchen guten neuen Song, der sich in mein Ohr drängte und mir die Hoffnung gibt, dass es weiter geht. Mittlerweile gehen viele Musiker ihren eigenen Weg, setzen auf Traditionelles und pfeifen auf die Mode.
Diese andere Szene hat es besonders schwer getroffen und man hofft, dass der Schaden nicht allzu groß wird. Im Rockbereich wird es langsam dünne, neues ist wenig in Sicht und die alten Haudegen der Szene verschwinden altersbedingt immer mehr.
Die Rockbands der alten Schule fehlen mir zunehmend, wie auch die klassischen Hardrockbands. Hier scheint eine Lücke zu entstehen, was ich sehr schade finde. Es ist vielleicht nur mein persönlicher Eindruck, aber mich begeistert schon lange nicht mehr viel neues.
Dagegen gibt es im Folk- und Songwriterbereich so manche kleine Perlen, die im Untergrund durch die Lande ziehen oder zogen. Jedenfalls hab ich viel gutes im Web und bei Youtube aufgestöbert, nur das Livererlebnis fehlt halt.
Die Musikszene 2020 scheint etwas gelähmt zu sein wie auch der Konzertbesucher durch die Ereignisse.

Für das Jahr 2021 stehen schon viele Termine fest, ob es was wird ..., schauen wir mal.
Jedenfalls liegen die Karten und Termine bereit, natürlich auch noch viele von 2020.
Enttäuscht bin ich auch von so manchem großen Musiknamen, der in der Krise keine Stellung bezog und einfach abtauchte. Schade, eine Meinung sollte man schon haben und auch mal über seinen eigenen Schatten Springen und sich äußern. Auch wenn man sich da nicht nur Freunde macht.
Mein Dank gilt besonders allen Veranstaltern und Clubbesitzern, die harte Zeiten durchmachen, die trotzdem Pläne schmieden und weiter durchhalten wollen. Ihnen gilt unsere Unterstützung und sie sollten unbedingt Hilfe auch von oben erhalten. Das Clubsterben darf nicht weitergehen. Schlimm genug, dass die alten Dorfsäle schon nicht mehr existieren. Hier geht einmalige Kultur den Bach runter. Wir wollen ja auch noch paar Jahre die kleinen Musiker, die mit Lust und Laune für kleines Geld spielen, hautnah erleben.
Leider nimmt die Qualität von Beitragen auch im Web nicht zu. Auf einen guten Artikel fallen 100 Minisätze zum Thema z.B. bei Facebook. Gute, anspruchsvolle Foren, in denen man sich ein paar Minuten Zeit nehmen muss, sind Mangelware. Ob sich das noch ändert... , ich glaube nicht und finde es sehr schade, dass manche das Schreiben verlernt haben.
Also, es kann alles nur noch besser werden als es der Stand jetzt ist.

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#2

RE: Mein persönlicher kritischer Rückblick 2020

in Hautnah - Geschichte und Geschichten um Rock, Blues, Folk & mehr 18.12.2020 17:07
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Das Jahr 2020 wird als ein besonderes Jahr in die Geschichtsbücher eingehen. Das Konzertjahr 2020 inklusive. Jede Branche, jeder Personenkreis und jeder einzelne wird dieses Fazit ziehen müssen, so meine Überzeugung. Nach sieben Jahrzehnten gehaltvollen Lebens, inklusive eines brachialen Bruchs, den der Volksmund salopp „Wende“ nennt, hatte ich das große Glück, bis Anfang 2020 viel Musik nach meinen Vorstellungen genießen und Neues entdecken zu dürfen. Damit ist jetzt Schluss! Rückblick:

Zu Beginn des Jahres traf ich endlich auf das Duo LIAISONG und erlebte einen grandiosen Gitarristen, eine vielseitige Sängerin und mit beiden einen Liederabend besonderer Art. Das hatte ich mir lange schon gewünscht, aber die Chancen bis zu jenem Abend waren rar. Dann das englische Duo RUFUS COATES & JESS SMITH. Die waren eine Zufallsbekanntschaft. Aus einer Laune heraus fuhr ich hinüber nach Quedlinburg. Die beiden haben mich mit ihrer urbanen Auffassung, dunklen und schwermütigen Blues zu zelebrieren, begeistert. So etwas wird man niemals auf großen Bühnen erleben können, doch in der „Reichenstraße“ in Quedlinburg, einem kneipenähnlichen Jugendzentrum, in dem Leute wie ich zum Glück nicht auffallen, taucht man ab in den „Underground“, wo die musikalischen Mixturen für die Zukunft entstehen könnten.

Mit Maske und Abstand haben mich die STEINLANDPIRATEN mit ihren Gundermann-Interpretationen im Wipertihof begeistert und im heißen Sommer traf ich im Papermoon auf den Finnen MEKKELÄ, der schon halb Europa bereiste und überall Besucher beglückt hat. Der war rau, aber ungemein herzlich. Einen wirklich ganz besonderen Abend durchlebte ich beim Kotowski-Gedenk-Konzert: Die heutigen SPUTNIKS mit Micha Lehrmann und MODERN SOUL mit Hugo Laartz. Ich hatte das Vergnügen, Hansi Biebl noch einmal zu sprechen und ihn live (ohne Gitarre) auf der Bühne zu sehen. Dieses Konzert hat mich, wieder einmal, die Vergänglichkeit, nicht nur des Lebens, spüren lassen: „Nichts ist von Dauer“ oder „Alles fließt“!

Meinen Jahresausklang (im Oktober) spendierte mir LIFT in der Ulrichskirche zu Halle. Mit herrlichen Balladen, endlich wieder mal den „van Gogh“ live und dem neuen „Der Admiral“, alles spartanisch zur Orgel- oder Pianobegleitung und mit den Stimmen von vier Krutzianern – zauberhaft! Da bewies sich wieder, dass nicht die Verpackung, sondern der Inhalt das Wesen von Musik bestimmt. Hervorheben möchte ich auch den seltenen „Klangwechsel“ beim Cage-Projekt in Halberstadt, den ich miterleben wollte. Kein Konzert, aber ein Jahrhundertereignis- und Projekt, wie es wohl kein Zweites auf diesem Planeten gibt. Dort wird ganz leise und ohne Pomp Musikgeschichte geschrieben. In Summe hätten es gern ein paar mehr Konzerte sein dürfen, aber die knapp 20, die ich sah, haben mich inspiriert. Nun aber ist „Schicht im Schacht“, Stille in den Klubs und die Aussichten trübe, sehr trübe! Solange der Fußball wichtiger ist, als Bildung und Kultur und Fußballer mehr Geld erhalten, als Dichter und Denker, solange werden wir auch „Kollateralschäden“, wie Querdenkern und Realitätsleugnern, nur frisches Futter geben, statt sie zu überzeugen. Ausreden gehören in Deutschland zum Standartprogramm.

Meine Befürchtung ist, dass viele kleine (private) Veranstalter und Klubs, die nächsten Monate nicht überleben werden. Denen, die durchhalten und mit witzigen Ideen weiter machen wollen, drücke ich die Daumen. Sie haben meinen Respekt. Ich hoffe zudem, dass viele Musiker aus der zweiten, dritten oder gar vierten Reihe, zäh genug sind, um mit ihrer Musik, abseits des Mainstream und der Medien, die Zukunft neu zu definieren. Vielleicht erlebe ich das ja noch. Zu den Großen, die auf hohem Niveau klagen und zehn Gitarren zu Hausee aufbewahren, äußere ich mich nicht. Deren Kreativität beschränkt sich seit Jahren nur noch auf das Beherrschen großer Bühnen. Von denen hätte ich mir in den letzten Monaten eher eine dicke, laute und freche Lippe gewünscht, ein aufrüttelndes Statement oder großes gemeinsames Projekt, das anderen Mut macht. Aber nein, Rocklegenden sind etwas geworden, was man in den USA für andere Giganten eine „lahme Ente“ nennt. Ich bin nun auch über 70, ich leiste mir deshalb diese Einschätzung. Rocker waren doch immer unser Anker in stürmischen Zeiten, oder nicht? Wo bleiben deren Witz, deren Sarkasmus und deren wundervolle Gabe, anderen Mut zu machen? Sind wir alle, sind sie schon viel zu satt, trotz der Krise?

Dass man über Musik im Netz nicht mehr inhaltlich wertvoll diskutieren kann, beklage ich schon länger und Facebook ist eine Kreatur, die Kreativität zerstört – jedoch – wer dort nicht präsent ist, wird schon gar nicht mehr wahrgenommen. Also tummeln sich Selbstdarsteller und Fangruppen, um ihre Stars und Sternchen zu puschen und deren Botschaften, Termine, Produktionen und Haarfarben ins Netz zu posaunen. Leute wie DU und ich spielen dort mit, aber das Spiel raubt die Lust an Kreativität und am Schreiben und anderen die Lust, am Lesen. Man tauscht lieber die belanglosen Smilies, Herzchen und Daumen. Weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Kann aber auch sein, ich bin zu alt für solchen Scheiß und habe sowieso keine Ahnung. Also belächelt den alten Mann und nennt mich großkotzig. Ich weiß, was ich bis hierher erleben durfte und ein paar richtige Freunde im richtigen Leben draußen habe ich auch noch.

Nun also endet ein Katastrophenjahr, musikalisch und sowieso, und für mich persönlich auch noch ein privater Knockdown. Unsere liebevolle Hundelady Lily mussten wir gehen lassen, sie erlösen. Das tut in dieser Zeit besonders weh und wirkt nachhaltig. Für mich beginnt jetzt eine Zeit der Einkehr, der Ruhe, des (Aus)Sortierens und des Orientierens. Ich bin auf der Suche nach neuen Wegen, denn ich habe noch ein paar Jahre, die ich gern sinn- und lustvoll nutzen möchte. Dabei kann ich auf manches und auch manchen, das/der inzwischen „wichtig“ ist, locker verzichten. Genug erlebt, gesehen, gehört und sogar gestaltet. Jetzt sind andere dran, wenn sie in meinem Alter später auf etwas Nachhaltiges, auf Bleibendes zurückblicken wollen.

Danke Steffen, für Deine aufrichtigen Worte. Wir sind uns sehr nah. Passt, um Himmels Willen, auf Euch auf und schützt Eure Lieben! Ich gönne mir, passend zu dieser beklemmenden Situation, eine Pause. Keine Ahnung, wie lange – tschüß!


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#3

RE: Mein persönlicher kritischer Rückblick 2020

in Hautnah - Geschichte und Geschichten um Rock, Blues, Folk & mehr 23.12.2020 10:28
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

Mein erster Text zu diesem Thema beschert mir heute beim Lesen Gänsehaut. Ich wusste nicht, dass sich das Gefühl der Hilflosigkeit noch steigern lassen und ausgerechnet Kundi der Katalysator sein würde. Wenige Tage nach seinem Ableben fühle ich mich innerlich zerrissen, als hätte ich einen Punkt erreicht, von dem aus ich nur noch zusehen kann oder darf. Ich sitze hier im Irgendwo und kann das Geschehen im Rückblick zwar sehen, nicht aber begreifen. Lasst uns gemeinsam bis zum Jahresende schweigend einem ganz Großen am Bühnenrand gedenken, der sicher ein Gedenkkonzert verdient, es aber genau so sicher nicht gewollt hätte. Lasst uns die Zeit bis zum Jahreswechsel nutzen, um uns allen etwas Ruhe zu verschaffen und vielleicht auch wieder Ideen zu finden, die in die Zukunft weisen können. Seid alle umarmt und verbringt ein Weihnachtsfest in Einkehr, in Ruhe und vor allem in stabiler Gesundheit. Hartmut


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#4

RE: Mein persönlicher kritischer Rückblick 2020

in Hautnah - Geschichte und Geschichten um Rock, Blues, Folk & mehr 26.12.2020 11:28
von SN-Nittel | 329 Beiträge | 724 Punkte

Danke... ja, das sollten wir tun.
In diesem gehemmten und zukunftsschwierigen Kulturjahr kommen noch persönliche Schicksalsschläge unter Freunden und im privaten Bereich dazu. Es ist nicht einfach und jeder muss die Zeit einmal durchmachen. Das hab ich auch Erleben müssen. Nutzen wir diese Tage um Frieden zu finden, Abschied zu nehmen und, aber auch sich an schöne Momente zu erinnern.
Irgendwann müssen wir auch wieder nach vorn schauen.

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