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Die SEILSCHAFT & CHRISTIAN HAASE live im Anker Leipzig
Die SEILSCHAFT & CHRISTIAN HAASE live im Anker Leipzig
in Konzertberichte 2019 und älter 20.11.2018 18:01von HH aus EE • | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte
Die Seilschaft & Christian Haase live im Anker (17.11.2018)
„Solange die Zeiger rücken, solange die Räder klicken, ist noch alles offen, ist noch alles drin.“
Dieser 21. Juni im Jahr 1998 war ein sonniger Sonntag. Nichts Besonderes ist geschehen, hätte man denken können. Doch am Tag darauf schlug die Realität unbarmherzig zu: Gerhard Gundermann sei an diesem Sonntag gestorben, hieß es schlicht und emotionslos. Die Emotionen kamen bei vielen erst danach; Stück um Stück. Mir war schlecht, das weiß ich noch. So wie nach John Lennon’s tot auch. Es brauchte einige Tage, diese Unwiderruflichkeit zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen, den werde ich, so wie im März 1983 in unserem Klub, nie wieder live erleben und seine Lieder wohl auch nicht.
Ganze zehn Jahre sollte es bis zum 21. Juni 2008, seinem 10. Todestag, dauern, ehe diese Lethargie sich langsam wieder aufzulösen begann. An jenem Abend stand ich mit Freunden in der ersten Reihe der Columbiahalle Berlin, um beim Tribut für Gundermann, „Alle oder keiner“, dabei zu sein. So viele Klöße wie bei diesem Konzert habe ich nie wieder runterschlucken müssen. Aber ich konnte dennoch einige seiner Lieder, wenigstens teilweise, mitsingen. Für mich persönlich ein besonderes Erlebnis und zwischen der SEILSCHAFT und einem Sänger namens HAASE hatte es außerdem gefunkt. Es war live zu sehen und die Magie war zu spüren. Und es tut gut, wenn diese Lieder von den „Männern, Frauen und Maschinen“, die vom Regen, vom Wind und Schnee im „Steinland“ und die von den „Engeln über dem Revier“ sowie den Menschen aus Fliederteezeiten überdauern und auch im Heute Mut verbreiten können.
Weitere zehn Jahre später bin ich vor dem neuen Anker in Leipzig verabredet, um wieder gemeinsam diese Lieder zu hören, so wie ich es in Dresden, Freiberg und Torgau auch schon tat. Draußen in der jungen Winterkälte wächst eine Schlange wie in Wende-Bananen-Zeiten, um sich durch das Nadelöhr in den Saal zu drängen, ihn fast bis in die letzte Ecke zu stopfen. Wie durch ein Wunder stehe ich mit Peggy und zwei Freunden ganz vorn, als die Musiker freudestrahlend die Bühne betreten. Der blonde Sänger steht am Mikrofon, seine rechte Hand dort, wo das Herz schlägt, und singt. Von nun an wird satte drei Stunden lang gespielt, gesungen, gesungen und gesungen. Spätestens bei „Soll sein“ weiß ich, heute hören wir einen stimmgewaltigen Chor im Saal mit einer Kapelle auf der Rampe. Schon ist es wieder da, das unbeschreibliche Gefühl, mit Hunderten von den gleichen Lieben, Ängsten und den eigenen Hoffnungen zu singen. Wie hat der das damals nur gemacht, dieser GUNDERMANN?
CHRISTIAN HAASE, mit der (fast) originalen SEILSCHAFT im Rücken, besingt gefühlvoll sein „Herzblatt (Was bist du so traurig?)“ und wenig später steigen wir mit ein bei „Hier bin ich geboren (Wo die Kühe mager sind wie das Glück.)“ Der Refrain wirbelt über alle Köpfe hinweg und die Rhythmen pressen die Worte an die Wand, denn ein wenig Trotz und Wut steckt noch immer in den Zeilen von Gundermann. Mir ist jedenfalls so und deshalb tut es gut, inmitten dieser Meute mir völlig unbekannter Menschen zu stehen, zu hören, zu sehen und zu fühlen. Und dann, wenn es richtig ballert, wie bei der „Sehnsucht nach dem Rattenfänger“, lösen sich auch meine Bremsen. Kein Kloß im Hals und ich kann laut meine Meinung hinaus singen: „Unten in der Kanalisation, da üben schon wieder die Ratten Karate!“ Als der Song auf Platte erschien, stand das Jahr 1993 im Kalender. Rund zwanzig Jahre später ist das Thema (leider) immer noch brandaktuell. Doch eigentlich bräuchten wir gar keine neuen Rattenfänger, wenn endlich allen Ratten von den hierfür Verantwortlichen der Nährboden entzogen würde!
Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, welche Wirkung Gundis Texte, in Verbindung mit den oft traumhaft schönen Melodien, selbst zwanzig Jahre nach seinem Ableben zu erreichen vermögen. Mit CHRISTIAN HAASE am Mikrofon klingen sie zwar irgendwie anders, vielleicht sogar neu, doch immer noch so verdammt vertraut. Das ist in diesen Minuten im Anker nicht anders und ich ertappe mich bei dem frechen Gedanken, wie der andere blonde Sänger da oben wohl im Fleischerhemd wirken würde. Doch CHRISTIAN HAASE, im dunklen Zwirn, erzählt zwischendrin seine eigenen Geschichten, die vom Plastikmüll, vom Seiltänzer und vom Tod, und berührt dann mit seiner Version der „Linda“ die Herzen auf ganz eigene Weise. Durch seine Art leben die Lieder, jedenfalls für mich, gefühlt identisch. Wenn „Owehoweh“ von der Bühne donnert und er die „Grüne Armee“ aufmarschieren lässt, bleiben keine Wünsche offen. Beim Besingen von „Niemandsland (am Ende der Welt)“ stimmt der ganze Saal ein, mein Kopfkino aber zeigt mir Bilder davon, von riesigen Schürfwunden im Erdreich und Förderbrücken, die darin wühlen. Irgendwo dort wuchs auch ich auf, hatte ich Freunde und (m)einen wundervollen „Vater“, den HAASE nur zur Pianobegleitung besingt. Da sind auch meine Erinnerungen wieder da und der Kloß im Hals, der mich doch am Mitsingen hindert. Mensch Gundi, was für berührende Zeilen und wie inniglich sie CHRISTIAN für uns alle singt. Hinter mir ruft einer „Danke!“ und ich nicke nur wortlos.
Inzwischen fühle ich mich wie auf einer Party mit hunderten Gästen. Es ist eng und wenn ich mich mal umdrehe, erblicke ich ein Meer von Köpfen, das im Rhythmus der Musik mitgeht oder wild tobt, wenn ANDY WIECZOREK sein höllisches Saxophonsolo für „Spricht der Teufel“ in die Menge bläst. Dann wird gejubelt und gepfiffen. Beim nachfolgenden „Einsame Spitze“ aber singen alle wieder lauthals mit und die Gischt der Wellen bricht sich an dieser Rampe, um im Bild zu bleiben. Ich stehe da vorn mittendrin und fühle mich unsagbar glücklich, bin dankbar, das erleben zu können. Jeder Ton, ja jedes Wort, ist für mich wie eine Erinnerung aus früheren Lebensjahren am südlichen Waldrand im damaligen Bezirk Cottbus: Trotzig, melancholisch, frech, aber auch zärtlich und liebevoll. Also schließe ich meine Augen und singe im Chor „(Immer wieder wächst das) Gras“ und sehe im Kopfkino die „Sensen ihre Kreise ziehen“. Irgendwo auf einer Wiese im Schradengebiet, am Rande der Lausitz, wo ich ein Kind sein und eine unbeschwerte Kindheit (in der DDR) erleben durfte.
Dann bin ich wieder hellwach, als HAASE etwas von einem Studiotermin sowie einer möglichen neuen CD der SEILSCHAFT erzählt. Und als wäre noch ein Beweis nötig, folgt mit „Es sieht nach Regen aus“ eine Melodie, die auf diesen Silberling gehört und sich in ihrer Ausstrahlung von all den anderen Songs nicht unterscheidet. Mit „Macht ja nischt“ folgt eines meiner Lieblingslieder, bei dem wir alle „Linoleum druff“ grölen dürfen und hinterher lachen müssen, bevor „Und musst du weinen“ angestimmt wird. Es ist ein Wechselbad vieler Gefühle, das ich erlebe und ich genieße es, wenn ANDY WIECZOREK sich für „Wenn ich wär“ in sein wildes Saxophon-Solo hinein steigert. Da feiert ihn die Menge ausgelassen, die Stimmung ist auf dem Höhepunkt und niemand hat bemerkt, wie Zeit vergangen ist. In die Euphorie hinein prasseln die Akkorde der Gitarre und ein Ruck geht wieder durch den Saal. Jetzt ist der Chor in Höchstform, schließlich heißt das Lied „Alle oder keiner“ (schönen Gruß an Neil Young), die Hymne trotziger Gemeinsamkeiten: „Schluss mit den Klagen, aus der Traum. Runter vom Wagen, rauf auf’n Baum.“. Niemals vorher und niemals wieder danach hat irgendwer die besonderen Befindlichkeiten vieler Menschen – ihre Hoffnungen, Enttäuschungen, Zweifel und Mut, Resignation und Glück - derart lyrisch komprimiert und für alle gut verständlich auf den Punkt in Lieder gegossen. Ich jedenfalls fühle mich in jedem Ton, mit jedem Wort immer noch gut aufgehoben und ja, auch bestätigt.
Nach mehr als zwanzig Liedern und über zwei Stunden steht DIE SEILSACHAFT, Arm in Arm, glücklich vor uns und bedankt sich. Jeder für sich und wir alle gemeinsam genießen diese Momente, weil sie so schön und auch viel zu selten sind. Natürlich weiß auch jeder, dass die Party so nicht enden kann und nicht enden wird. Allein mit der Gitarre vor dem Auditorium stehend, besingt CHRISTIAN HAASE den „Zweitbesten Sommer“, leise und sehr nah. Ich lasse mich stehend fallen und dann erklingt das Spiel der Orgel. Mir werden die Knie weich und das Blut pulsiert heftig, als diese Hommage für CÄSAR und als Dankeschön für den Anker in Leipzig erklingt: „Wer die Rose ehrt“. Kaum eine Hymne aus jenem untergegangenen Land passt wohl besser zu den ausgewählten Gundermann-Liedern und zu diesem Augenblick. Alle singen sie leise mit und dann bricht ein Jubelsturm vor CÄSAR’s Heimatbühne los. Ich erlebe die nächsten Lieder fast wie in Trance: „Weisstdunoch“, „Schwarze Galeere“, „Keine Zeit mehr“. Zum Glück gibt es noch mit dem Lied vom „weißen Strich über Land gemalt“ eine echte Jubelnummer, bei der wir alle mitsingen „(Er bringt uns sicher) Nach Haus“. Danach ist wirklich Schluss – sollte man meinen. Doch viele im Publikum rufen lautstark nach „Brunhilde“ und wir bekommen sie zu hören. Es ist einfach wunderbar! Seite an Seite stehe ich jetzt mit Peggy, um diesen Moment des Abschieds zu genießen. Noch einmal verbeugen sich die Musiker, noch einmal ein Gruppenbild und schon kurze Zeit später mischen sie sich glücklich unter die sich auflösende Menge im Saal. Abschiedsstimmung nach drei Stunden und ich danke Euch, Christian, Andy, Christoph, Mario, Michael sowie der Frau mit der Löwenmähne und dem knallharten Beat, danke Tina. Auch Andrè, schön, Dich getroffen zu haben. Ihr alle ward wieder einmal „Einsame Spitze“ im Freude verteilen und Mut machen!
Ich fühle mich zehn Jahre zurück versetzt. Mir ist fast wie nach dem aufwühlenden „Semper Fidelis“, damals im alten Anker. Nur heute fühle ich Glück, statt Trauer. Es hat sich gelohnt. In mir wühlen die Emotionen und ich bin einer guten Freundin unsagbar dankbar, dass sie mich „überreden“ konnte, das Konzerterlebnis mit ihr zu teilen. DANKE Peggy, Du erkennst besser als manch Sehender, wie wichtig gelebte Gemeinschaft in diesen Tagen ist und Du handelst einfach. Respekt (!) und bis zum nächsten Mal und „solange die Zeiger rücken, solange die Räder klicken“.
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