#1

So viel Heimlichkeit?

in Off-Topic 13.12.2018 19:19
von HH aus EE | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte

So viel Heimlichkeit?

Es ist wieder Weihnachtszeit und als Höhepunkt bald auch Heiliger Abend. Zeit für Geschenke, für Überraschungen und für so manchen auch die Zeit der Besinnung, des Innehaltens.

Die Erfahrungen der letzten 25 Jahre haben mich gelehrt, dass die Weihnachtszeit erst nach dem Totensonntag beginnt, weil dann die Lichter- und Glimmerketten über die Bäume in den Vorgärten herfallen und die Konturen von Häusern mit selbigen „geschmückt“ werden. In den Fenstern stehen Schwibbögen, Nussknacker und Räuchermännchen. Es ist Erzgebirge allerorten. Die Einkaufstempel haben jetzt noch länger geöffnet und direkt davor, daneben oder rundherum hasten die Menschen über Weihnachtsmärkte. Beide, Weihnachtsmärkte und Einkaufstempel, locken mit „Sonderangeboten“ und die Massen hetzen dorthin, um ein „Schnäppchen“ zu erhaschen. Weihnachten ist seit dem Jahre Null, also seit 1989, vor allem die Zeit, in der man Geschenke kaufen muss, um, von Elektronik bis zu angesagten Klamotten, stets am Ball zu bleiben. Von Heimlichkeit und Bastelstunden, von spannender Suche und liebevollen Aktivitäten in den Abendstunden, redet kaum ein Schwein. Nun endlich, seit der heroischen Wiedervereinnahmung, können wir armen Ossis alles – Gott und Markt sei Dank – kaufen, was das Portemonnaie her- und die Werbung vorgeben. Shoppen ist des braven Bürgers erste Pflicht und Seeligkeit geworden. Die Mangelwirtschaft von einst muss als billiges Alibi dafür herhalten. Als ob wir einst nicht auch liebevoll zueinander gewesen wären? „So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit“ ist der „so viel Hektik jedes Jahr“ gewichen und fast jeder findet es toll.

Vielleicht ist das andere, das „alte“ und traditionelle Weihnachten etwas, was viele schon vergessen zu haben scheinen bzw. gar nicht erst kennengelernt haben. Ein paar Stunden der Entschleunigung, Zeit für die und mit der Familie, Zeit für Freunde, Zeit mit den Lieben und Zeit auch für sich selbst, die ist beinahe irgendwie, und zwischen Mauerfall und Bananeninvasion, auf der Strecke geblieben. Wir sind gerade wieder einmal dabei, das alles auf dem „Altar des Umsatzes“, des heiligen Wachstums und der individuellen Selbsttäuschung zu opfern. Dafür „lieben“ und liken wir uns jetzt im heiligen „Buch der Gesichtslosen“, teilen leere Sprüche, um die Welt zu retten und werfen uns dennoch Worte an unsere Köpfe, die wir im wahren Leben niemals aussprechen würde. Die Welt ist digital beliebig, das Leben zu schnell und der Genuss kommt zu kurz. Statt Hippie sind wir hipp.

Doch es gibt Dinge in diesem Leben, die kann man sich nicht einfach mal so kaufen, um sie dann, von Verkäuferinnen stilvoll eingepackt, zu verschenken. Einige Werte kann man nur verschenken, wenn man wirklich will und das Schenken ehrlich meint. Etwas Zeit und Hinwendung vielleicht, Achtung und Liebe und manchmal auch ein Stück eigenes ICH, das jemand dringend als Hilfe in unsicheren Zeiten oder während einer Krankheit benötigt. Den eigenen Blick dafür zu schärfen und sich still zu besinnen, sich nicht im Kaufrausch selbst zu ersäufen, auch das kann Inhalt und Sinn des Festes sein. Zumindest glaube ICH das und um das zu erkennen, muss man nicht zwangsläufig gläubiger Christ und getauft sein. Es genügt manchmal auch schon, seine eigenen Gefühle zu erkennen, sich zu ihnen zu bekennen und ihnen zu folgen in Zeiten, in denen es zum Zwang geworden ist, „cool“, „hipp“ und „schick“ zu sein. So ein „gefällt mir“ - Häkchen ist schnell gesetzt, die aufrichtigen Worte dahinter zu lesen, kostet Zeit. Für eine lange Stunde Zeit zum Reden oder zum Zuhören benötigt man eben auch eine die ganze lange Stunde Zeit. Die zu „opfern“, sind nur noch wenige willens oder bereit. Wir sind in einer lauten Zeit der Flüchtigkeiten angekommen. Es zählt der schnelle Reiz, die Zeit, sich hinzugeben, verbringen viel zu viele mit dem Smartphon und wundern sich dann, dass man Weihnachten auch schreibend und (vor)lesend, statt mit schnellem Tippen am Smartphon, verbringen kann. Wenn alle so leben müssten, wie sie am Smartphon „schreiben“, würden hier nur jugendliche Krüppel durch die Gegend kriechen, die ihren Kindern eine „Sprache“ aus Versatzstücken, Smiliys und Emojis vermitteln. Da bin ich wirklich froh, mit Schreibfeder, Kofferradio, Telefonzelle und Jugendclub aufgewachsen zu sein!

Mir selbst fällt es jedes Jahr und von Mal zu Mal schwerer, etwas zu finden, um es am Heiligen Abend zu verschenken. Vor allem im letzten Jahr, als gnadenlos der Krebs zuschlug, ist mir noch deutlicher geworden, dass mir Materielles nur noch bedingt den Genuss verschafft, den ich mir wünsche. Wenn Dein ganzes Leben plötzlich auf der Kippe steht und Du nicht weißt, nach welcher Seite es sich neigen wird, kann man sehr leise, demütig, ängstlich und dankbar werden. Auch Hilfe suchend und bittend. Seitdem bin ich ein Anderer.

Plötzlich fühlt man, dass Zeit immer knapper zu werden droht und man mit keinem Bankkonto etwas hinzukaufen kann. Nicht erst seitdem, aber seither besonders, gebe ich mir Mühe, etwas von meiner eigenen Zeit, in Form von Zuwendung, zu verschenken. Menschen, die mir wichtig sind, sollen spüren, dass sie mir wichtig sind und deshalb werde ich sie ein Mal mehr in meine Arme nehmen. Ich möchte spüren und spüren lassen, dass ich für sie bedingungslos da bin. Ohne Einschränkungen und nicht nur zur Weihnachtszeit. Meine Gedanken sind immer öfter bei Menschen, die mir wichtig sind: Die Lieben in meiner nächsten Umgebung, meine Kinder, meine Enkel, mein Freund David und dessen Schwester Elisabeth in Schottland und all jene, die mich glücklich machen, weil sie (noch) hier sind, auch wenn sie weit weg zu sein scheinen. Ich denke an meinen „alten Herrn“, an jene, die schon gegangen sind, und versuche mir vorzustellen, was man in einer fernen Zukunft, falls es eine geben sollte, über uns sagen möge.

Was also verschenken und wo bekomme ich dieses „Es“ her? Wahrscheinlich wird es kommen, wie in all den vergangenen Jahren auch. Ich werde wieder nichts suchen. Weder in einem der kleinen Läden, noch im überquellenden Supermarkt. In den letztgenannten werde ich wahrscheinlich nicht mal hinein gehen, weil mir darin, im übertragenden Sinne, einfach nur noch massenhaft zum Kotzen ist. Einige meiner Lieben werde ich überraschen, weil sie nichts ahnen. Einigen werde ich ein paar besondere Zeilen widmen, die sie nicht kennen. Ich werde einige umarmen und mich freuen, dass ich ihnen nah sein darf und dass wir uns noch haben. In einigen Fällen werde ich, der neuen Entfernung wegen, das Telefon nutzen, um deren Stimmen zu hören und ich wünsche mir sehr, dass sie das auch wollen. Wie in jedem Jahr, gehen einige Weihnachtsstollen von hier nach Schottland auf die Reise, weil ich lernen durfte, wie unheimlich süß die Schotten naschen können.

Es gibt so viele individuelle und sehr persönliche Wege, Freude zu verschenken und nicht einer dieser Wege führt zwangsläufig durch eine rappelvolle Shopping-Meile. Lasst uns all die festliche Vorfreude genießen, indem wir für besondere Menschen auch etwas Besonderes anstellen, um in der Stunde der Bescherung oder zu einer späteren ZEIT, das Leuchten in ihren Augen zu bewundern. In diesem Sinne wünsche ich Euch allen eine wunderschöne verbleibende Vorweihnachtszeit und denkt vielleicht daran, „so viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit“ ist allemal das größere Geschenk, als wir mit Geld, so wir genug davon hätten, jemals irgendwo kaufen könnten.

Im kommenden Jahr werde ich kürzer treten. Meine Vorstellungen, den Umgang mit Musik betreffend, kollidieren immer öfter mit der Realität, die den raschen Konsum und das persönlicher Fan-Ego, statt die Beschäftigung mit Inhalten, in den Vordergrund stellt. Das war noch nie meins, wird es auch nicht werden. Da lasse ich mich auch gern stur und von gestern nennen. Wenn die Freude beginnt, auf der Strecke zu bleiben, werde ich mich leise aus dieser Öffentlichkeit zurückziehen. Von außen zuschauen und lächeln, kann für einen, der in 50 Jahren viel erlebt und gesehen hat, auch sehr vergnüglich sein.

Auf meine individuelle Art möchte ich DANKE sagen für die Zeit, die ich bisher mit vielen von Euch an verschiedenen Orten verbringen durfte. DANKE für gelebte Freundschaften, DANKE für viel Liebe und DANKE für Eure Nachsicht, die man in meinem Alter manchmal erhofft. All das begreife ich nun noch mehr als Euer schönstes Geschenk für MICH. In diesem Sinne, und mit viel Nachdenklichkeit im Kopf, wünsche ich jedem meiner Freunde im Leben eine besinnliche und stimmungsvolle Vorweihnachtszeit.

Euer fossiler Rock-Rentner HH aus EE (jetzt HBS im HZ).

Angefügte Bilder:
Advent Licht.JPG

www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
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#2

RE: So viel Heimlichkeit?

in Off-Topic 14.12.2018 07:44
von Kundi | 3.250 Beiträge | 7335 Punkte

Wow! Da spricht wieder einer aus tiefster Seele heraus und seine Gedanken liegen gar nicht so weit von meinen weg.

DANKE für Deine Zeilen, lieber Hartmut.

Gerade in dieser schnelllebigen, materiellen und reizüberfluteten Zeit sollten wir uns doch alle mehr auf das Wesentliche beschränken.

Wo sind die Jahre hin, wo kleine Geschenke große Freude auslösten? Als die Väter wochenlang in ihren Kellern heimlich für ihre Lieben gebaut und gebastelt haben?

Nein, es geht nicht um schneller, höher, weiter bei der Beschenkerei zu Weihnachten.
Gesundheit, Liebe, Zusammenhalt und echte Freundschaft sind mir auch wichtiger. Diese Dinge kann man nicht kaufen und auch nicht mit Geschenken erkaufen.

Wenn ich mit meinen Lieben gemeinsam ein paar schöne, besinnliche Stunden in Ruhe und Frieden unterm Tannenbaum verbringen kann, dann ist mir das allemal lieber als ein neues Smartphone oder andere materielle Dinge.

Gruß Kundi


zuletzt bearbeitet 14.12.2018 11:11 | nach oben springen

#3

RE: So viel Heimlichkeit?

in Off-Topic 17.12.2018 08:54
von SN-Nittel | 329 Beiträge | 724 Punkte

Ein paar wirklich passende Zeilen, die du da geschrieben hast. Du hast die richtigen Worte gefunden. Mir geht es ähnlich. Materielles Schenken geht mit glatt am A... vorbei und ist mir unwichtig.
Das Wort "Besinnliche" Weihnachtszeit wird tausendmal in den Mund genommen und kaum noch gelebt. Ich streife manchmal abends durch mein Dorf, schaue, sehen hunderte Autos die von A nach B hetzen und keinen Mensch gemütlich laufen.

Hm....viele leere Worte, Oberflächlichkeit aber auch Zwänge in der Gesellschaft. Schade...jeder hat damit zu kämpfen.

Hartmut dein Beitrag ist gut. Ich wünsche Dir jedenfalls Alles Gute und die Liebe zur Musik soll weitergehen.
Wenn ich ehrlich bin....wo ist die Gesellschaft hingeraten?

Wir sind aber auch ein Musikforum....
Auch diese Foren, wo man was schreiben sollte, haben es schwer, Musikzeitschriften verschwinden, ernsthafte Diskussionen werden seltener.
Musikalisch war es trotzdem ein interessantes Jahr.
Aber ich schaue gern zurück vor 25, 33, 40 Jahren, wo manches einfach musikalisch anders war.

Frohe "besinnliche" Weihnachtszeit

zuletzt bearbeitet 17.12.2018 08:55 | nach oben springen


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