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MARTIN & THOMAS RÜHMANN "Schneefrühling" in Halberstadt
MARTIN & THOMAS RÜHMANN "Schneefrühling" in Halberstadt
in Konzertberichte 2019 und älter 06.06.2016 18:06von HH aus EE • | 1.042 Beiträge | 2522 Punkte
Gebrüder Rühmann – "Schneefrühling" im Kreuzgang (04.06.2016)
In mir steckt kein TV-Junkie, ich komme ganz gut ohne Flimmerkiste über den Tag. Erst recht ohne diese aussageneutralen Serien, von „Klinik“ über „Strasse“ bis „Kochtopp“. Auch deren Protagonisten sind mir zumeist völlig unbekannt. Da habe ich eine echte „Bildungslücke“ und trage sie gelassen vor mir her. Es sollte auch Außenseiter geben und als solcher stand ich am 21. Juni 2008 in erster Reihe vor der Bühnenkante in der Columbiahalle Berlin. Ein Tributkonzert für Gerhard Gundermann hätte es werden sollen und alle die kamen, die vor und auf der Bühne, haben ein Fest der Lebensfreude und fröhlichen Erinnerung daraus gemacht. Damals saß ein Schauspieler da oben, direkt vor mir, und ließ den Gundi erzählen. Davon, wie der einen Kreis im Schwimmbad tauchte und mit einem Blick in die andere Richtung, aber an gleicher Stelle, wieder aufgetaucht ist. Auch von den vielen Schrauben mit Linksgewinde, die man in den Kasten mit dem Rechtsgewinde geschüttet hatte, sprach Gundi durch ihn. Er sang, gemeinsam mit Tobias Morgenstern, in beeindruckender Weise „Soll sein“ vom Lausitzer Baggerfahrer und Liedererfinder. Seitdem ist THOMAS RÜHMANN auch mir ein Begriff und ich nahm mir irgendwann auch vor, sein kleines Theater am Rand zu besuchen. Letzteres habe ich leider (noch) nicht geschafft, aber der Schauspieler und Sänger mit der angenehmen Stimme ist mir inzwischen ein Begriff geworden. Heute werde ich ihn, im Trio mit seinem Bruder MARTIN RÜHMANN und dem Mann fürs Rhythmische, GÖREN EGGERT, treffen. Sie sind nach Halberstadt gekommen, um an einem lauen Sommerabend vom vergangenen „Schneefrühling“ zu singen und ich bin neugierig zu erfahren, was beide darunter verstehen.
Kurz vor 20.00 Uhr ist der Kreuzgang der Liebfrauenkirche bestens gefüllt. Es ist kein Stuhl mehr frei und trotz der Tageshitze ist es im Innenhof des Gotteshauses gut auszuhalten. Zwei von vier Türmen sehen wir in warmes Abendlicht getaucht, darunter die offene Bühne mit dem Instrumentarium. Keine Frage, der Name des TV-Arztes lockt das Publikum 50plus von der Couch ins Freie, um dem Schwarm ihrer Abendunterhaltung in die Augen zu schauen. Dass er auch überzeugend Lieder singen kann, das werden sie am Ende des Abends als neue Erfahrung mit nach Hause nehmen können. Abendakademie der etwas anderen Art sozusagen.
Die Sonne versinkt und zieht dabei die Schattenvorhänge an den Wänden hoch. Auf der Bühne sitzen drei Musikanten mit ihren Gitarren und ein paar Rhythmusinstrumenten. Als sie loslegen, groovt und swingt es im Kreuzgang. Über diese Rhythmen plaudert der schauspielernde Sänger, warum das nun ausgerechnet Lieder vom „Schneefrühling“ geworden sind, was wir darunter zu verstehen hätten und warum diese kurze Zeit zwischen noch Schnee, aber noch kein Frühling, so wichtig für die Brüder ist, die Zeit ihres Lebens auf der Suche als Clown, Schauspieler und Liedermacher, also „Unterwegs“ sind. So wie dieses „Lied schon lang unterwegs ist“, so plaudern und singen beide ihre kleinen Kinder- und Lebensgeschichten bis hin zum Kanon im heimischen Großfamilienkreis.
Dann endlich, ganz ohne Ansage, der erste Gundermann-Song, der auch diese Spanne auslotet, die der Schneefrühling meint: „Blau und blau“, so die erste Textzeile und weiter lässt Gundermann beide singen „war der Himmel so blau, Vögel und Flieger, wir kannten ihn … wo ist der hin?“ Nachzuhören auf dem Album „Einsame Spitze“ (1992) und immer noch aktuell. Auch die Männerpferdegspräche, die wir zu hören bekommen, und wie man „Fohlen reiten“ sollte, sind Geschichten aus dem Umfeld der Rühmann-Brüder Martin und Thomas. Ebenso das Ding mit dem „Tomate(n-Salat)“, das beide spritzig und a-capella vortragen. Da spürt man förmlich, wie gleich die Beiden live auf der Bühne ticken und wie sie sich und uns gleichermaßen mit „Chagall (wenn deine Drachen fauchen)“ vergnügen. Mich hat die Geschichte, wie man verhindern kann, dass reife Kürbisse geklaut werden, köstlich amüsiert. Dafür hätte ich Strittmatter lesen, statt Gundermann hören sollen. Oder vielleicht auch beides nacheinander. Meinen Kürbissen hätte so eine Gravierung sicher auch Spaß gemacht, als sie im Garten reiften!
Dann glaube ich meinen Ohren nicht zu trauen. Ihre erzählten Episoden, wie sie beide lernten Gitarre zu spielen und dann die drei Akkorde von „La Poupee Qui Fait Non“ erklingen, das habe auch ich einst genau so erlebt. Auch die Akkordfolge von „The House Of The Rising Sun“, „Es steht ein Haus in New Orleans“, habe ich ebenso in meiner Erinnerung gespeichert. Das sind jene besonderen Momente, die selbst heute noch eine ganze Generation einen, ohne sich erklären zu müssen. DANKE auch für den „Rock’n’Roll auf dem Bauernhof“ und für den Rühmann-Klassiker „Hiddensee“ mit der subtilen Art die Doppelzüngigkeit anzuprangen: „Keine Haie im Becken, keine Nutte an der Bar … in der Suppe kein Haar, wir lungern herum“. Statt Urlaub machen beide danach Pause.
Während sich die Künstler zurückziehen und das Publikum sich Füße vertritt und die Kehlen erfrischt, legt, von allen unbemerkt, die Nacht langsam ihr Dach über den Kreuzgang. Es wird dunkel und der Schein der Lampen taucht das Innere des Hofes in eine romantische bunte Wohlfühlatmosphäre. Im Zwielicht und zwischen den Bäumen flattern Fledermäuse über unsere Köpfe hinweg. Da passt es gut, wenn RÜHMANN & RÜHMANN plus EGGERT ein wenig Neil Young’s „Rockin’ In Free World“, frei nach Gerhard Gundermann als „Alle oder keiner“, in die zweite Hälfte der Konzertnacht rocken. Sofort sind die Bilder aus der Columbiahalle vor acht Jahren wieder da und das Gefühl auch. Dass die Lieder von Gundermann auch heute noch gesungen werden, vermittelt mir immer noch das Gefühl, identisch mit deren Inhalt zu sein, die aktuellen Probleme anzusprechen zu müssen. Auch MARTIN RÜHMANN hat mit seinem Song „Genau so“ diesen Faden aufgegriffen, in andere Worte, aber ebenso ausdrucksstark und wirkungsvoll in Musik verpackt. Zwischen den beiden Liedern erinnert sich THOMAS RÜHMANN an knallroten und grünen Wackelpudding auf dem Tisch der Familie und auch ich habe aus meiner Kinderzeit so ein grünes wackelndes Etwas in der Erinnerung.
Der Abend lebt von der Romantik eines Clowns auf der einen und der Sichtweise des Bruders auf die gemeinsame Zeit und der Sehnsucht, etwas verändern zu wollen, auf der anderen Seite. Dazwischen immer wieder Erinnerungen, wie die an den Abwaschmädchenkinderchor in der Küche, die ins Heute gespiegelt werden und zum Nachdenken anregen. So erzählen sich die Brüder, und also uns, von ihrer Familiengeschichte. Sie nutzen dazu die eigenen Lieder des einen und solche, die auch beide mögen, wie die von Gundermann zum Beispiel. Und aus allen ragt dann dieses eine vom „Leuchtturmwärter“ heraus und überstrahlt uns: „Dafür hast du doch nicht laufen gelernt.“ Besonders in der zweiten Hälfte ist die Liedauswahl dicht und die Texte sind besonders spritzig. Manche bleiben wohl noch einige Tage länger haften, wie der von der Großmutter, die nicht mehr singen wollte, weil ansonsten bald wieder ein Unglück passieren könne. Nach dieser und vielen anderen Pointen war das Lachen laut und nach der Musik die Begeisterung unüberhörbar.
Auch hinten im Gang sehe ich bei denen von KOMM’ MA! E.V., die das alles hier eingerührt, plakatiert, beworben, vorbereitet und durchgezogen haben, glückliche und zufriedene Gesichter. Vielleicht hätten die Sitzenden sich auch einmal nach hinten wenden sollen, um ihren Halberstädter Mitbürgern für das Engagement DANK zu sagen. Wer schon einmal versucht hat, ein größeres Ereignis vorzubereiten, der ahnt zumindest, wie schwer das alles zu schultern ist, zumal es dafür keine staatlichen und stattlichen Fördermittel (mehr) gibt. Da hatte ich es vor vier Dekaden mit meinen Konzerten deutlich leichter. Hut ab!
Dieser Abend vom „Schneefrühling“ präsentierte Lieder von MARTIN RÜHMANN und auch einige, die THOMAS, sein älterer Bruder, offensichtlich mag. Beide lieben darüber hinaus die von Gundermann und der Schauspieler hat zudem den Strittmatter für uns neu entdeckt, wie man beim Text von der Großmutter nahezu fühlen konnte. Musik und Literatur so zu verschmelzen, das sie Eins werden und die Fantasie beflügeln können, das ist es, was in mir nach Stunden immer noch schwingt und sich ein wenig wie „Schneefrühling“ anfühlt. Vielleicht werden viele Besucher ähnlich fühlen, während sie, so wie ich auch, über den Domplatz nach Hause schlendern, einige neue Melodien im Kopf und die zwei erleuchteten Türme vom Dom voraus im Blick haben. Vielleicht dem nächsten „Schneefrühling“ und damit neunen Erfahrungen entgegen.
www.mein-lebensgefuehl-rockmusik.de
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