Privileg – der magische Moment (30.10.2015)
Seit ein paar Wochen sehe ich eine Liedzeile im anderen Licht: „Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an“. Die kennt wahrscheinlich so ziemlich jeder. Bei jeder passenden Gelegenheit kommt der Spruch. Doch hat man dieses spätjugendliche Alter erst einmal erreicht, ist es schon ziemlich spät, um noch einmal richtig durchzustarten. Mit Blick auf die anrückende Siebzig sollte man eigentlich ein großes Stück Leben in vollen Zügen genossen, es zumindest schon mal versucht haben. Ansonsten wüsste man wahrscheinlich gar nicht, was man mit diesem Leben ab sechsundsechzig überhaupt noch anstellen soll. Ich wünsche mir für die Zukunft noch einige magische Momente, wie sie mir schon ab und an begegnet sind:
Im Jahre 1967 oder 1968, das kann ich nicht mehr genau sagen, aber ich war noch Schüler der EOS in Elsterwerda, da kam der britische Film „Privilege“ auch in die Kinos der DDR. Wir gingen, um uns den Film mit PAUL JONES, dem ehemaligen Sänger der Manfred Mann Group, anzusehen. Der spielte den Steven Shorter, einen Rock-Star, der manipuliert werden sollte, um Jugendliche vom Rebellieren abzuhalten. Allein das Thema, noch dazu in einem Film aus England, war Anreiz genug, den Streifen sehen zu müssen. Erst recht aber, wenn ein aktueller Star auf der Leinwand singend zu erleben war. Also saßen wir in den Reihen mit hölzernen Klappstühlen, hörten den dumpfen hymnische Gesang im Hintergrund, das Klirren der Ketten, die an den Käfig geschlagen wurden und schauten fassungslos zu, wie Shorter, an den Händen gefesselt, im Käfig eingeschlossen wurde, während seine Fans davor standen und das Geschehen nicht fassen konnten. Aus den Lautsprechern erklang dieses unheimlich ergreifende „ I want my freedom, just set me free“ („Free Me“), das Shorter sang, ja aus sich heraus flehte. Wir saßen im Kino, sahen „nur“ einen Film und flennten, so wie es diese Fans vor dem Käfig taten.
Mich hat dieser Film und dessen Musik damals sehr bewegt, denn schon kurze Zeit später spielte die Klaus Renft Combo dieses „Free Me“ in ihren Konzerten. Die Band erzeugte live mit Chorgesang und Orgel den gleichen hymnischen Background, über dem der junge Hans-Jürgen Beyer, so wie Shorter im Film, seinen Aufschrei, auf die Knien gestützt, in den Saal sang und stöhnte. Diese Filmszene, die Live-Präsentation im Saal und eben dieses Lied, hatten sich bei mir über viele Jahre fest eingebrannt.
Am 16. Mai 2010, rund vierzig Jahre nach diesen Erlebnissen, bin ich nach Dresden gefahren, um im Live-Club Tante Ju THE BLUES BAND zu erleben. In dieser Band, eine Gemeinschaft von fünf überaus exzellenten und bekannten Musikern der britischen Blues-Szene, ist jener PAUL JONES aus „Privilege“ der Mann am Gesangsmikrofon. Auf diese Gelegenheit hatte ich lange gewartet und dann stand dort diese Herrenriege, jeder für sich ein Star in England, und ich habe mich, musikalisch auf höchstem Niveau, verwöhnen lassen. Nach dem Konzert ergab sich Gelegenheit, ziemlich ausführlich mit PAUL JONES zu sprechen und natürlich habe ich ihm diese Geschichte erzählt, die er von anderen sicher auch oft zu hören bekommt. Er hat sich trotzdem für einen alten Fan Zeit genommen, hat vielleicht die Begeisterung in meinen Augen sehen können und sich dann noch mit mir fotografieren lassen. Was für ein magischer Moment in der nächtlichen Tante Ju! Nicht das Foto, sondern die Chance, ihn zu treffen, mit ihm zu reden und ihm die Hand reichen zu dürfen. Magisch ist es, wenn man sich mit über 60 Jahren noch einmal wie 17 fühlen und zur Erinnerung die Autogramme auf Single-Cover und Filmprogramm mit nach Hause nehmen darf.